Kann eine Sportart, zu der nur ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt zugelassen ist, inklusiv sein? Tut man da nicht dem Wort «Inklusion» einmal mehr Gewalt an? Schliesst Behindertensport nicht schon per definitionem Inklusion aus? Eine fadengerade Antwort.
Ich bin kaum vom abendlichen Training nach Hause gekommen, macht mich mein Handy auf eine neu eingegangene E-Mail aufmerksam. Einer meiner Schüler hat folgendes Anliegen: «Ich habe heute im Training erfahren, dass das letzte Meisterschaftsspiel vom Samstag auf übermorgen Donnerstagabend verschoben wurde und wir um 17.00 Uhr Besammlung haben. Jetzt ist meine Frage, ob es möglich wäre, früher aus dem Unterricht zu gehen?»
Ein entscheidendes Spiel – und ich bin dabei!
Wir hatten gerade zehn Tage vorher das letzte Meisterschaftsspiel im Powerchairhockey. Ich stand im Aufgebot, wurde also vom Trainer auserkoren, als Spielerin mitzugehen. Mein zweiter Einsatz in der Nationalliga A sollte es werden. Ich war entsprechend stolz. Es ging darum, ob wir den zweiten Platz halten oder auf den dritten abrutschen. Ich wollte alles geben für meine Mannschaft und zeigen, dass die Entscheidung des Trainers, mich mitzunehmen, richtig war. Weder der alljährliche Stress vor Schuljahresende noch das schöne Wetter und die Aussicht auf einen gemütlichen, freien Samstag in der Natur konnten mich davon abhalten, den ganzen Tag in der lauten Sporthalle zu verbringen.
Organisatorische Höchstleistung
So ein Spieltag braucht viel Organisation. Die Teams aus der ganzen Schweiz reisen mit rollstuhlgerechten Bussen mit Hebebühne an. Einige haben sogar einen Anhänger, um all das Material zu verstauen. Entsprechend eng wird es in den Kabinen und in der Halle. Da stehen Alltagsrollstühle, Sportrollstühle, Patientenheber, Atemgeräte, Werkzeugkisten, Ladegeräte, Kabelrollen herum. Auf den ersten Blick sieht es aus wie an einer Reha-Ausstellung. Doch dieser Blick täuscht. Hier geben Trainer die Aufstellung bekannt und die letzten Anweisungen, bevor das Team auf dem Feld mit dem Schlachtruf den Mannschaftsgeist endgültig weckt. Dort besprechen sich die Schiedsrichter mit der Spielleitung, Resultate der soeben beendeten Spiele werden aufgeschrieben, und der Speaker bittet die nächsten Mannschaften aufs Feld. Trinkfläschchen werden gereicht, Hockeyschläger gerichtet, die passenden Club-Leibchen angezogen.
Behinderungen rücken in den Hintergrund
Es geht zu und her wie bei jeder anderen Sportveranstaltung auch. Jeder will ein möglichst gutes Resultat erzielen, alles geben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort stehen, um den Gegner auszubremsen. Dass einige Spieler/-innen nur einen Finger oder den Fuss mehr oder weniger kontrolliert bewegen können, rückt in den Hintergrund. Flink flitzen die Sportlerinnen und Sportler auf dem Feld hin und her. Touchieren sich zwei mehr oder weniger heftig, pfeift der Schiedsrichter ab. Foul! Rollstuhlkontakt ist verboten, genauso wie das Verschieben der Banden. Den eigenen Sportrollstuhl muss man beherrschen, millimetergenau! Wer als Feldspieler im eigenen Torraum landet, riskiert einen Penalty.
Internationaler Profisport
Powerchairhockey erfordert eine nicht zu unterschätzende Koordination der Bewegungen. Den Rollstuhl mit einer Geschwindigkeit von bis zu 15 km/h steuern und gleichzeitig den Ball am Stock führen, den Überblick behalten über die Positionen der eigenen Mitspieler und der Gegner, das Spiel lesen, um im richtigen Augenblick den Ball zu spielen, eine Lücke zu öffnen oder zu schliessen – all das braucht Training. Powerchairhockey hat sich in den letzten Jahren von der amateurhaften Freizeitbeschäftigung zum dynamischen Profisport entwickelt. Früher spielte jeder in seinem Alltagsrollstuhl. Heute haben extra entwickelte Sportrollstühle Einzug gehalten. Mit der international harmonisierten Klassifizierung sind auch körperlich schwächere Spieler/-innen in jeder Mannschaft unverzichtbare Teammitglieder. Ende September spielt die Schweizer Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft in Lignano Sabbiadoro (Italien) gegen Teams aus der ganzen Welt. Zum ersten Mal ist mit Kanada auch ein Land vom amerikanischen Kontinent dabei. Bestrebungen laufen, damit Powerchairhockey paralympisch wird.
Ich mache Sport. Ich gehöre dazu.
Und was hat das alles nun mit Inklusion zu tun? Bei Inklusion geht es in erster Linie um die Zugehörigkeit. Gehöre ich zu einer Gesellschaft, oder werde ich ausgeschlossen? Der Sport hat eine ganz wichtige Funktion in unserer Gesellschaft. Er ist mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Er ist fast schon ein Lebensgefühl, eine andere Welt. Erst wer Sport treibt, kann mitreden und auch mitfühlen. Und Sport ist auch eine Lebensschule. Wie gehe ich um mit ungerechten Schiedsrichterentscheiden? Kann ich meinem erbittertsten Gegner zum Sieg gratulieren? Wie reagiere ich auf erboste Reaktionen meiner Mitspieler und auf Zurechtweisungen des Trainers, in meinen Augen vielleicht sogar ungerechtfertigte? Wie gehe ich mit Fehlern um, mit eigenen oder solchen meiner Teamkolleginnen und -kollegen? Kann ich meine Bedürfnisse zugunsten der Mannschaft zurückstellen? Wie reagiere ich auf Niederlagen? Wie bringe ich Ausbildung oder Arbeit, Familie und Sport unter einen Hut? All diese Fragen und ihre Antworten sind inklusiv. Sie stellen sich bei jeder (Team-)Sportart – unabhängig von einer Behinderung. Ob ich jetzt meine Sportart nur ausüben kann, weil ich eine Behinderung habe, die für diesen Sport zugelassen ist, ist zweitrangig. Ich mache einfach Sport. Ich fühle wie eine Sportlerin, ich reagiere wie eine Sportlerin, ich spreche wie eine Sportlerin, ich denke wie eine Sportlerin – ich bin eine Sportlerin.
Sport verbindet
Meiner Mannschaft, den Rolling Thunder Bern, ist es wichtig, die doch noch junge Sportart Powerchairhockey bekannt zu machen. Deshalb laden wir immer wieder Leute zu einem Plauschmatch ein. Fussgängerinnen und Fussgänger setzen sich dann auch in Elektrorollstühle und spielen mit oder gegen uns. Auch dies ist ein inklusives Element. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Sportler/-innen begegnen Sportlern. Die Behinderung verblasst. Das gemeinsame Erlebnis, geteilte Emotionen und engagiertes Fachsimpeln verbinden.
Inklusion heisst nicht, Menschen zu verändern, damit sie ins System passen. Es geht darum, das System zu verändern, damit alle Menschen hineinpassen. Und so dient Powerchairhockey dazu, dass das System «Sport» auch für Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen zugänglich ist.
Spät am Abend schreibe ich meinem Schüler noch eine Antwort auf seine Frage. Bevor ich in die Welt des Sports eingetaucht bin, hätte sie wahrscheinlich anders gelautet. Nun kann ich mitfühlen, verstehen, wie wichtig so ein letztes Meisterschaftsspiel ist. Dass es nicht seine Schuld ist, dass es in die Schulzeit fällt. Dass er in einem grossen Dilemma ist: Die Ausbildung hat eigentlich Vorrang. Die Mannschaft braucht ihn aber. Der Trainer setzt auf ihn. Ich schreibe: «Danke für die sofortige Nachricht. Ja, das ist möglich. Sie müssen allerdings die Zeit vor- oder nacharbeiten. Entweder Sie beginnen bereits um 13.40 Uhr, oder Sie machen mit mir einen Termin zur Nacharbeit ab.» Das letzte Meisterschaftsspiel war gerettet und meine Beziehung zu meinem Schüler auch. Inklusion sei Dank!
Infobox (aktualisiert im Oktober 2021)
Powerchairhockey ist für Menschen, die wegen ihrer Behinderung keine andere Teamsportart ausüben können. Auf einem Unihockeyfeld mit tiefen Banden treten zwei Mannschaften mit jeweils einem Torwart und vier Feldspielern in Elektrorollstühlen gegeneinander an. Der Torwart und mindestens ein Feldspieler haben am Rollstuhl einen fix montierten Schläger (T-Stick). Die anderen Spieler führen den Unihockeyball mit einem Unihockeyschläger. Anders als beim Hockey darf der Ball nicht mehr als 20 cm vom Boden springen. Deshalb haben auch die Tore mit 2.5 m Breite und 20 cm Höhe eine etwas andere Dimension. Die Spieler/-innen werden aufgrund ihrer spielerischen Möglichkeiten (Kraft, Beweglichkeit, Stabilität) mit Punkten von 0.5 bis 4.5 klassifiziert. Auf dem Spielfeld dürfen pro Team höchstens 12 Punkte sein. In der Schweiz wurde 2013 ein Ligabetrieb mit drei bis fünf Spieltagen pro Liga (im Moment A und B) eingeführt und so der Schweizermeister gekürt. Weitere Informationen unter Swiss Powerchair Hockey.
Quelle
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3/2018 der Zeitschrift Behinderung & Politik von AGILE.CH erschienen. In einer gekürzten und leicht Version wurde der Artikel mit dem Titel „Powerchair Hockey: Wie eine exklusive Sportart zur Inklusion beiträgt“ in der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik, Ausgabe Nr. 5–6, Mai—Juni 2019 publiziert.