An der MillionsMissing-Kundgebung* 2025 auf dem Bundesplatz sprach ich über Menschenrechte, Sterbehilfe und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.
Liebe Anwesende hier auf dem Bundesplatz, liebe Anwesende, die online teilnehmen, die mit ihren Steckbriefen präsent sind hier unter uns, aber auch liebe Abwesende, die sehr gerne hier auch mit dabei wären
Gestern nach dem Unterricht blieb ich noch an der Schule und korrigierte Prüfungen. Nichts Ungewöhnliches für mich, bin ich doch Lehrerin für Wirtschaft und Recht am Gymnasium. Eine Frage in dieser Prüfung lautete: «Was ist das Besondere an den Menschenrechten?»
Als ich die Antworten der Schüler:innen las, musste ich unweigerlich an heute denken. Da stand: «Sie sind universell.» «Sie gelten für alle Menschen unabhängig der Situation, bedingungslos.» «Sie stehen in der Bundesverfassung und kommen in der ganzen Schweizer Rechtsordnung zur Geltung.» Solche und ähnliche Antworten las ich in den Prüfungen meiner Schülerinnen und Schüler.
Die Schweiz: Hüterin der Menschenrechte?
Meine Gedanken schweiften ab. Wie ist das nun genau mit den Menschenrechten in der Schweiz? Die Schweiz sieht sich doch gerne als Hüterin der Menschenrechte. Gelten sie in unserem Land wirklich so, wie meine Schüler:innen das gelernt und richtig wiedergegeben haben? Und: Wie verhält sich das mit den Menschenrechten für Menschen mit Behinderungen und Krankheiten?
Ich bin sicher hier nicht die Einzige, die sich diese Fragen stellt. Sie alle haben solche oder ähnliche Fragen immer wieder.
- Wie steht es mit dem Recht auf Bildung und dem obligatorischen Grundschulunterricht, wenn Kinder aufgrund von ME nicht zur Schule gehen können? Müssen wir uns mit 2x 30 Minuten Unterricht zuhause pro Woche zufrieden geben?
- Wie steht es mit dem Recht auf medizinische Versorgung, wenn diese nur in Gesundheitseinrichtungen angeboten wird, das Aufsuchen dieser aber unweigerlich eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach sich zieht? Müssen wir das einfach in Kauf nehmen?
- Wie steht es mit dem Recht auf Hilfe in Notlagen? Wie steht es mit dem Recht auf Leistungen der Sozialversicherungen bei Krankheit und Behinderung, wenn aufgrund der fehlenden oder nicht anerkannten Diagnose Leistungen verweigert werden? Müssen wir auf die versprochene Existenzsicherung verzichten?
- Und wie steht es eigentlich mit der Menschenwürde? Sie steht an erster Stelle im Grundrechtskatalog der Schweizer Bundesverfassung. Wo ist sie geblieben – die Menschenwürde, wenn wir Menschen mit Behinderungen und Krankheiten uns immer wieder rechtfertigen müssen für Dinge, die für andere selbstverständlich sind? Wenn wir uns immer wieder erklären müssen, wenn unsere Erfahrung nichts zählt, wenn uns nicht geglaubt wird, wenn unser Wissen nicht gefragt ist? Wenn über uns entschieden wird, anstatt uns anzuhören, uns zuzuhören? Wenn wir einfach nicht ernst genommen werden?
Lebenshilfe vor Sterbehilfe!
Es braucht so viel Kraft und Energie, die wir Menschen mit Behinderungen und Krankheiten doch wirklich nicht im Überfluss haben. Kraft und Energie, die andere gar nicht nötig haben, weil sie nicht mit solchen Situationen konfrontiert sind.
Wer muss schon Gesuche schreiben und Abklärungen über sich ergehen lassen, nur um mal wieder den Wind im Gesicht zu spüren – oder wie wir gehört haben – schon nur um Nahrung zu bekommen?
Was mich persönlich ganz stark bewegt, ist Folgendes: Das Recht auf Selbstbestimmtes Leben müssen wir uns hart erkämpfen und für einige ist es immer noch unerreichbar – nicht in erster und alleiniger Linie aufgrund der Erkrankung, sondern auch und gerade wegen der fehlenden staatlichen Unterstützung. Das Recht selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden aber, scheint kaum jemand in Frage zu stellen. Es ist für viele zur einzigen Alternative geworden. Und das in einem der reichsten Länder der Welt.
Müssen wir all das hinnehmen? Nein! Und deshalb sind wir hier versammelt. Es tut gut, Sie alle hier zu haben. Und zu wissen, dass ganz viele von Zuhause aus dabei sind, mit ihren Steckbriefen unter uns sind und wir noch viel mehr wären, wenn alle kommen könnten, die kommen wollten. Sie alle sind wertvoll. Sie alle sind wichtig!
Die leisen Stimmen gehen vergessen
In der Politik habe ich etwas gelernt: Je lauter die Stimmen, desto eher werden sie gehört. Je bekannter das Problem oder das Anliegen, desto anerkannter ist es und desto eher werden Lösungen gesucht und gefunden. Oder eben auch: Wer keine Stimme hat, geht vergessen. Die Anliegen sind nicht bekannt. Das kennen wir nur zu gut. Politik, Gesellschaft und Verwaltung kennen die tatsächlichen Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen und Krankheiten viel zu wenig.
Es dominieren althergebrachte, ableistische Vorstellungen: Entweder verhindern Schutz- und Fürsorgegedanke Selbstbestimmung und Eigenverantwortung oder es wird uns vorgeworfen, eine Behinderung oder Krankheit nur vorzutäuschen, um staatliche Leistungen zu kassieren. Beides sind herabwürdigende Stereotypen. Beides wird unseren Lebenswelten in keinster Weise gerecht.
So nicht!
Ermutigend ist für mich deshalb, dass wir heute hier versammelt sind und gemeinsam sagen: So nicht!
Wir sind laut und werden immer lauter. Wir erheben gemeinsam mit unseren Verbündeten unsere Stimmen – sogar aus dem Bett! Gemeinsam kämpfen wir gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit und für die Menschenrechte. Gemeinsam machen wir Gesellschaft, Politik und Verwaltung darauf aufmerksam, dass die Menschenrechte universell sind – wie es auch in den Prüfungsantworten meiner Schülerinnen und Schüler richtig stand –, dass die Menschenrechte bedingungslos für alle Menschen gelten, auch für uns, auch für diejenigen, die unsichtbar geworden sind, die vergessen gehen.
Wir stehen dafür ein, dass Menschenrechte nicht nur Theorie bleiben, sondern dass sie in der Praxis gelebte Realität werden – hier und jetzt – mit sichtbaren und spürbaren Auswirkungen auf jeden einzelnen Menschen und dadurch auch zum Wohle der Gesellschaft. Dafür stehen wir ein! Herzlichen Dank sind Sie alle auch dafür hier hergekommen.
Zur Aufnahme: #MillionsMissing 2025 – Live-Stream (ab 1:32:35) der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS
* «Millions Missing» macht weltweit auf die Situation von Menschen mit ME (Myalgischer Enzephalomyelitis) und CFS (Chronic Fatigue Syndrome) aufmerksam. Der Name steht für die Millionen Betroffenen, die aufgrund ihrer Krankheit und Behinderung unsichtbar sind und im Alltag fehlen – in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik, im sozialen Leben.
Bild: (c) Reto Schlatter
Herzlichen Dank für Ihre tolle Rede am Millions Missing im Bern.
Danke für die Rückmeldung. Das habe ich sehr gerne gemacht.