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Lebensqualität: von 0 auf 100

Was haben Sie heute gefrühstückt? Was hat das mit dem Thema Lebensqualität zu tun? mögen Sie sich fragen. Eine ganze Menge. Aber der Reihe nach: Was ist Lebensqualität überhaupt? Wer bestimmt sie und für wen? Was hat das Ganze mit Behinderung zu tun? In den nächsten Zeilen erfahren Sie mehr.

Sehr schnell bin ich von null auf hundert und sogar darüber, wenn es ums Thema Lebensqualität geht. Ich fühle mich als Person angegriffen, als Mensch, der mit einer Behinderung lebt, in Frage gestellt. Warum wohl? Ist es wegen Bemerkungen der Leute wie: «Wenn ich dich wäre, würde ich mich umbringen. Mit so einer Behinderung könnte ich nicht leben.»? Oder ist es wegen der ganzen Diskussion über Qualität in der Pflege und die Professionalisierung in der Behindertenbetreuung, die mir das Gefühl gibt, bevormundet zu werden?

Von objektiver Qualität zu subjektivem Wohlbefinden

Wie misst man Qualität? Beim Papier ist das noch relativ einfach. Die Grammatur ist mitentscheidend, also die Anzahl Gramm pro Quadratmeter. Aktuelles Beispiel ist die Wirksamkeit von Impfstoffen. Da ist klar, dass jede und jeder möglichst den Wirksamsten haben will, also den Impfstoff mit der höchsten Qualität. Wennschon, dennschon. Beim Papier ist das schon weniger klar. Für den Einkaufszettel brauche ich kaum dieselbe Papierqualität wie für die Geburtstagskarte. Qualität hat also auch eine relative Seite.

Und die ist bei der Lebensqualität noch viel ausgeprägter als bei der Qualität von Papier und Impfstoff. Lebensqualität ist gemäss Wikipedia der Grad des subjektiven Wohlbefindens. Das gefällt mir. Es geht nicht um eine Institution, ein Weltbild oder den Staat, die, das oder der mir vorgibt, unter welchen Umständen mein Leben wieviel Qualität hat. Es geht um mein subjektives Empfinden. Qualität hat mein Leben dann, wenn ich mich grundsätzlich wohlfühle. Klar befinden wir uns nicht immer in einer Wohlfühloase und klar ist das Leben manchmal auch ziemlich das Gegenteil davon. Von Lebensqualität können wir dann sprechen, wenn wir grundsätzlich Ja zu unserem Leben sagen. Dieses subjektive Ja ist das Gegenteil von häufig gehörten Lebensqualitätskausalitäten. Gesundheit, Beweglichkeit, Selbständigkeit, Reichtum und Macht führen nicht automatisch zu mehr Lebensqualität. Und eine Behinderung führt auch nicht automatisch zu weniger Lebensqualität. Dieses Ja zum Leben ist keine Selbstverständlichkeit, denn das subjektive Wohlbefinden muss nicht automatisch hoch genug dafür sein.

Ich habe noch keine Antwort auf meine eingangs gestellte Frage erhalten: Was haben Sie heute gefrühstückt? Ganz ausgiebig mit Speck und Ei oder doch eher gesund mit Früchten, Joghurt und Müesli? Oder musste ein einfacher Espresso reichen?

Selbstbestimmung führt zu Lebensqualität

Unsere Lebensqualität hängt wohl kaum von dieser doch eher banalen Frage ab. Und doch, so banal ist sie gar nicht. Dabei ist nicht einmal die Antwort entscheidend, sondern was dazu führte. Wer hat entschieden, ob und was Sie heute gefrühstückt haben? Waren Sie es selbst, die Umstände, ein Weltbild, eine Institution oder sogar der Staat? Wir lassen uns nicht gerne etwas vorschreiben. Das zeigen die Reaktionen auf die Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 fast täglich. Unser subjektives Wohlbefinden ist viel grösser, wenn wir selbst entscheiden können. Verzichte ich auf Eier und Speck, weil ich mich einem gesunden Lebensstil verschrieben habe, kann ich die Früchte mit Joghurt und Müesli so richtig geniessen. Wenn es nur für den Espresso reicht, weil ich länger schlafen wollte, schmeckt er vorzüglich. Wenn ich aber nur einen Espresso bekomme, weil ich mir Früchte mit Joghurt und Müesli nicht leisten kann oder weil niemand Zeit hat, mir dieses Frühstück bereit zu machen und einzugeben, macht sich früher oder später eine Unzufriedenheit breit. Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Mein subjektives Wohlbefinden und damit meine Lebensqualität nehmen ab.

Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung sind Schlüssel zu mehr Lebensqualität (siehe Artikel «Schlussbericht Evaluation Assistenzbeitrag»). Anstatt über die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen zu urteilen oder sie uns sogar abzusprechen, müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die es uns Menschen mit Behinderungen ermöglichen, genauso wie Menschen ohne Behinderungen Entscheidungen zu treffen. Nur dann können wir gleichberechtigt am Leben teilhaben. Nur dann können wir mitmachen und unseren Beitrag leisten, anstatt nur mehr oder weniger dabei zu sein. Und erst dann darf unsere Lebensqualität mit der anderer Menschen verglichen werden.

Behinderung – eine Lebensart

Die Beurteilung der eigenen Lebensqualität ist etwas Urpersönliches. Niemand und nichts darf einem anderen die Lebensqualität zu- oder absprechen. Ich lebe gerne – mit Behinderung. Wegen ihr bin ich, wer ich bin. Sie gehört zu meiner Lebensart. Und ich schätze die Qualität meines Lebens – mit Behinderung. Will mir jemand etwas anderes einreden, reagiere ich stachelig, wie eingangs erwähnt. Kann sich jemand nicht zu diesem Ja zum Leben durchringen, so muss ich das akzeptieren, obwohl es mir schwerfällt.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Rahmenbedingungen unseres Lebens einen sehr viel grösseren Einfluss haben auf unsere Lebensqualität als die Behinderung selbst. Die Behinderung können wir kaum beeinflussen. Die Rahmenbedingungen schon. Barrieren können abgebaut, Partizipation selbstverständlich werden. Und: Die Lebensqualität steigt, wenn wir mitbestimmen. Professionalisierung heisst nicht nur mehr Aus- und Weiterbildung, bessere Konzepte und höhere Qualitätsanforderungen. Professionalisierung heisst auch, dass Inklusion zur Selbstverständlichkeit wird, über die man nicht mehr diskutieren muss.

Damit das geschieht, müssen wir überall dort mitreden, wo es um uns geht. Wenn «Nichts über uns ohne uns» und «Wir sind Expertinnen und Experten in Sachen Behinderung» nicht nur stetig wiederholte Slogans bleiben, sondern gelebte Realität werden, gehen wir Schritt für Schritt in Richtung mehr Lebensqualität. Also los!

Und übrigens: Ich frühstücke nicht.

Quelle

Ausgabe 1/2021 der Zeitschrift Behinderung & Politik von AGILE.CH

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