Gemäss Bundesamt für Statistik leben 20 % der Schweizer Bevölkerung mit einer Behinderung. Behindertenanliegen betreffen somit jede 5. Person. Ein grosses Potenzial. Da müsste die Mobilisierung doch ein leichtes Unterfangen sein, könnte man meinen. Wirklich? Ein paar Gedanken zu möglichen Mobilisierungshindernissen.
Mobilisieren geht heute einfach: Über Social Media erreicht man mehr als 80 % der Menschen – schnell und kostengünstig. Rasch noch ein paar Transparente malen und Lärm mitnehmen. Die Mobilisierten steigen in den nächsten Zug oder nehmen das Auto und sind im Handumdrehen vor Ort. Das Ganze wird auf Social Media festgehalten und verbreitet sich rasend schnell um die ganze Welt.
Viel Vorlauf nötig
So einfach? Nicht für alle. Wir Menschen mit Behinderungen müssen auf dem Weg zum Ziel einige Hürden überwinden. Beginnen wir bei der Bekanntmachung. Wie kommt der Mobilisierungsaufruf zu den Menschen? Stopp! Wir müssen noch einen Schritt zurückgehen: Bereits die Gestaltung des Aufrufs hat es in sich. Mehrsprachig – das versteht sich in einem mehrsprachigen Land von selbst. Bei uns kommen noch die Gebärdensprachen dazu. Ja, richtig gelesen: Auch Gebärdensprachen haben ihre Vielfalt! Die Information muss zudem in Leichter Sprache verfasst sein, damit sie auch Menschen mit Lernschwierigkeiten verstehen. Bilder wären nicht schlecht. Die brauchen allerdings einen Alternativtext, also eine Bildbeschreibung. Sonst können blinde und sehbehinderte Menschen nichts damit anfangen. Videos sind voll in, müssen aus demselben Grund aber auch beschrieben werden – Audiodeskription heisst das. Und Untertitel braucht es. Wer nichts hört, ist sonst ausgeschlossen.
Der Mobilisierungsaufruf steht. Nun muss er unter die Leute gebracht werden. Die nächste Hürde. Social Media ist nämlich alles andere als barrierefrei. Per Post? Dann braucht es Adressen. Über Organisationen und Institutionen für Menschen mit Behinderungen? Dann muss sichergestellt werden, dass der Aufruf die Zielgruppe auch erreicht.
Von Spontaneität können wir nur träumen
Auch diese Hürde haben wir genommen. Die nächste ist die individuelle Planung der Teilnahme vor Ort. Menschen mit Behinderungen müssen Ausflüge – auch solche an politische Kundgebungen – immer noch minutiös planen. Für spontane Ortswechsel ist die kleine Schweiz viel zu wenig hindernisfrei. Reisen wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln? Viele Bahnhöfe sind für Rollstuhlfahrende nicht zugänglich. Zudem müssen sie ihre Zugreise immer noch mindestens eine Stunde vorher anmelden. Ausnahmen gibt es dann, wenn Abfahrts-, Umsteige-, Zielort und Rollmaterial stufenfrei zugänglich sind – eine Seltenheit. Unsere Hauptstadt – Ort zahlreicher politischer Manifestationen – gehört schon mal nicht dazu. Der öffentliche Verkehr ist nicht nur für Rollstuhlfahrende ein wahrer Hürdenlauf. Wer kein Orientierungsgenie ist, zudem lärm- und stressempfindlich, weicht besser auf andere Verkehrsmittel aus. Das Auto? Die beschränkten Budgets vieler Menschen mit Behinderungen reichen nicht für den motorisierten Individualverkehr. Aber das ist ein anderes Thema …
Organisationsprofis gefragt
Vor der Abfahrt sind noch andere Dinge zu prüfen: Wo ist die nächste hindernisfreie Toilette? Gibt es Sitzgelegenheiten? Hat es Rückzugsmöglichkeiten, falls es mir zu eng wird oder ich eine Pause brauche? Gibt es Gebärdensprachdolmetscher*innen, oder werde ich von den Reden wie so oft nichts mitbekommen? Kann ich mich genügend vor Regen und Kälte schützen? Habe ich eine Assistenzperson, die mich unterwegs unterstützt? Wer in einem Heim lebt, erhält normalerweise nur in der Institution Unterstützung, nicht auswärts. Wer zu Hause lebt, kann sich die Finanzierung der Unterstützung kaum leisten, weil die Präsenzzeiten über den Assistenzbeitrag nach wie vor nicht vergütet werden.
Es könnte einem richtig schlecht werden ob dieses Hürdenlaufs! Bleiben wir deshalb zu Hause? Nein! Wir machen uns auf den Weg. Zeit zu handeln. Zusammen. Zu Recht!
Quelle
Ausgabe 1/2022 der Zeitschrift Behinderung & Politik von AGILE.CH
Guten Tag Frau Leuenberger
Super dass Sie für aufzeigen, was zur Mobilisierung für Menschen mit Beeinträchtigung alles gehört, woran man denken muss und welche grossen Hürden überwunden werden müssen!!
Hoffen wir doch fest, dass Sie damit die Schweizer Politiker:innen aufrütteln können, endlich an diesen Defiziten zu arbeiten!!