Seit 1.1.2024 müssten – nach einer Übergangsfrist von 20 (!) Jahren – alle Haltestellen des öffentlichen Verkehrs barrierefrei sein. Das sind sie aber nicht. Deshalb haben die Transportunternehmen für Rollstuhlfahrende einen Shuttle-Service eingerichtet. Behindertentransportdienste übernehmen die Fahrt von und zu nicht-barrierefreien Haltestellen. Wie das funktioniert haben wir am 1. Januar 2024 getestet.
Das Ziel
Der rollstuhlgängige Strandweg am Bielersee zwischen Tüscherz und Ligerz.
Die Reisenden
Eine Familie mit zwei Kindern, ein Sohn im Handrollstuhl, sein bester Freund mit seiner Schwester und ihrer Mutter, meine Freundin und ich. Total also fünf Erwachsene und vier Kinder, eine Person im Hand-, eine im Elektrorollstuhl.
Die Vorbereitung
Auf der SBB App planen wir unsere Reise. In den Einstellungen können die Angaben zur Barrierefreiheit eingeblendet werden. So sehen wir, wo wir selbst Ein- und Aussteigen können, wo jemand mit einer Rampe oder dem Mobilift helfen muss und wo wir auf ein Shuttle angewiesen sind. Diese Information ist wichtig, weil Rampe oder Mobilift eine Stunde und ein Shuttle mindestens zwei Stunden im Voraus vorbestellt werden müssen. Die Reise melden wir beim Callcenter Handicap an, weil nicht alle Haltestellen barrierefrei sind.
Hinfahrt
Bern ab 14.12 Uhr, Gleis 49 – Einstieg barrierefrei
Biel an 14.38 Uhr – Ausstieg barrierefrei
Biel ab 14.50 Uhr, Gleis 2 – mit Shuttle
Tüscherz an 14.54 – mit Shuttle
Rückfahrt
Ligerz ab 17.25 Uhr – mit Shuttle
Biel an 17.35 Uhr – mit Shuttle
Biel ab 17.52 Uhr, Gleis 7 – Einstieg barrierefrei
Bern an 18.18 Uhr – Ausstieg barrierefrei
Etwas erstaunt bin ich schon, dass das Shuttle in Biel ab Gleis 2 fährt und dass es bis Tüscherz nur vier Minuten hat. Aus Erfahrung weiss ich, dass schon nur Ein- und Ausladen ins Taxi seine Zeit braucht. Und Kurzstrecken von Bahnhof zu Bahnhof dauern mit dem Auto meistens länger als mit dem Zug. Diese Erfahrung haben wohl alle schon mal gemacht, die auf einen Bahnersatz-Bus umsteigen mussten. Item, auch die Rückfahrt wird uns vom Callcenter Handicap gemäss Fahrplan bestätigt.
Die Reise
Mit meiner Freundin reise ich mit dem Postauto von Uettligen nach Bern. Das Postauto hat schon seit Jahren Klapprampen. Ein- und Aussteigen funktioniert also problemlos, obwohl mir die SBB App die Reservation eines Shuttles vorschlägt. In Bern treffen wir auf unsere Mitreisenden. In Biel muss sich unsere Reisegruppe bereits wieder aufteilen. Im Shuttle hat’s nur Platz für Rollstuhlfahrer:in und Begleitperson. Die andern gehen mit dem Zug. Unsere zwei unzertrennlichen Freunde können also nicht zusammen reisen.
Am Taxistand warten wir zu viert auf den bestellten Bahnersatz. Etwas erstaunt nehmen wir zur Kenntnis, dass ein Taxi aus Bern vorfährt um uns mitzunehmen. Der Fahrer bestätigt uns, dass er von Bern kommt und dann auch gleich nach Ligerz weiterfahren werde, um uns später von dort wieder nach Biel zu bringen und anschliessend leer nach Bern zurück zu kehren. Gut, diese Organisation ist ja nicht unsere Sache.
Unterwegs bemerkt unser jüngster Shuttle-Passagier: «Die Ansage der Haltestellen fehlt aber!» – Er übernimmt dies dann gleich selbst, kommt allerdings ins Stocken, als unser Taxifahrer an der Ausfahrt «Tüscherz» vorbei fährt. Am Bahnhof Twann stellen dann auch wir Erwachsene fest, dass da etwas nicht stimmen kann. Mit vereinten Kräften, Hilfe von SBB App und Google Maps versuchen wir den Fahrer davon zu überzeugen, dass unsere Mitreisenden uns am Bahnhof Tüscherz erwarten und nicht in Twann. Mit 20 Minuten Verspätung treffen wir dann tatsächlich dort ein und werden begrüsst mit: „Wir haben euch vorbei fahren sehen…“
Der rollstuhlgängige Strandweg in Richtung Ligerz ist fast perfekt. Einzig in Twann versperrt eine Fahrradschranke den Weg. Da wir beide eher kleine Rollstuhlfahrende sind, können wir uns unten durch zwängen. Auf dem Weg erreicht uns eine SMS des Callcenters Handicap. Unser Shuttle fahre schon um 17.05 Uhr statt erst um 17.25 Uhr ab Ligerz. Zum Glück haben wir ab und zu das Handy gezückt und so die Nachricht gesehen. Wir legen also einen Zacken zu, um trotz verspätetem Abmarsch rechtzeitig am Ziel anzukommen.
In Ligerz erwartet uns das Shuttle und bringt einen Teil von uns nach Biel, während die anderen auf den Zug warten. Die Reise im Zug von Biel nach Bern ist wiederum unproblematisch. Wir kommen wie geplant selbständig aus dem Zug.
Das Fazit
Eines ist sicher: Ohne Shuttle wären wir nicht mit dem ÖV an den Strandweg in Tüscherz gekommen. Dennoch kann der Shuttleservice längerfristig niemals eine Alternative zum Zug sein. Denn:
- Die Reisezeit verlängert sich gewaltig. Auch ohne Umweg hatten wir mit dem Shuttle fünfmal länger als mit dem Zug. Für uns hiess das, wir kamen später an und traten die Heimreise früher an – ein Zeitverlust von mindestens 45 Minuten.
- Gemeinsames Reisen ist nicht möglich. Familien und Freund:innen werden auseinander gerissen. Eine gute Planung (Wer reist mit wem?) inkl. Fahrausweise (Wer reist mit welchem Billett, Familienkarte, Begleiterabo, GA, …) ist unerlässlich.
- Spontane Planänderungen sind unmöglich. Das kennen wir Rollstuhlfahrende zwar bereits, mit dem Shuttle verdoppelt sich die Anmeldezeit aber noch einmal (auf zwei Stunden) und die Anschlüsse sind wegen dem Zeitverlust nicht garantiert.
- Klug, wer den Weg kennt! Sonst wären wir in Twann gelandet und der Rest der Familie hätte in Tüscherz auf uns gewartet.
Für einen Freizeitausflug alleine oder zu zweit, mag der Shuttle ganz lustig sein. Sobald mehrere Personen gemeinsam unterwegs sind, taugt er nur sehr beschränkt als Bahnersatz. Gänzlich ungeeignet ist der Shuttle-Service für regelmässige Fahrten zur Arbeit: Zu umständlich, zu unpünktlich, zu unflexibel.
Barrierefrei ist definitiv anders, und dass wir 20 Jahre auf eine solche Lösung warten mussten, ist unverständlich. Deshalb dürfen wir auch jetzt nicht aufgeben. Rollstuhlfahrende, nutzt den Shuttle-Service und die nicht-barrierefreien Haltestellen! Nur so wird sich langfristig etwas ändern und auch wir barrierefrei reisen können.
Unglaubliche Geschichte! An die Oeffentlichkeit bringen via Medien. Und noch mehr Frusttoleranz für die nächsten Jahre.
Danke für die Reaktion. Ja, es braucht ziemlich viel Frustrationstoleranz. In den Medien waren Ende letzten Jahres einige Berichte zur verpassten ÖV-Frist, z.B. in der Zeitung „Der Bund“
Aber klar könnten sie dann auch über die Erfahrungen berichten. Wir bleiben dran!
Danke für den Bericht!Super geschrieben!Weiter so!
Danke! Wir bleiben dran.
Danke für den Blog, der Blog gibt gute Hinweise bei einer Reise mit Shuttle. Kopfstützen im Behindertenfahrzeug sind obligatorisch.
Danke für die Rückmeldung. Gut beobachtet! Eine Kopfstützenvorrichtung hätte das Auto gehabt. Die Kopfstütze wurde aber nicht nach vorne geklappt…
Beim suchen nach einer Verbindung in der SBB App oder Webseite bemerkte ich, dass Postauto nicht aktualisiert ist. Da wird immer der Shuttle angeboten, dabei hat Postauto doch Niederflurbusse oder ein Lift.
Stimmt. Vielleicht, weil noch nicht alle Haltestellen der Norm entsprechen, d.h. eine hohe Trottoirkante haben? Übrigens, Dolderbahn und Uetliberg würden mit einer kleinen Spaltüberbrückung auch gehen.
Ich bin gespannt, wie lange wir noch warten müssen bis mindestens über die aktuellen Situationen richtig informiert wird.