Sie lebt mit einer Behinderung. Im Alltag ist sie gut organisiert, unterrichtet am Gymnasium, politisiert im Berner Grossrat. Doch es braucht nur eine Treppe vor einem Restaurant oder die behördliche Forderung, nachzuweisen, dass sie noch behindert ist – schon nimmt die Behinderung einen Raum ein, der ihr nicht zusteht. Simone Leuenberger über den Alltag mit Behinderung, Behördenschikane, politische Teilhabe und die Inklusions-Initiative.
Simone, weshalb bist du auf den Rollstuhl angewiesen?
Ich habe eine Muskelkrankheit. Das ist keine Krankheit im eigentlichen Sinn, sondern eine Behinderung. Ich habe sehr wenig Kraft. Deshalb frage ich ab und zu: «Kannst du mir deine Kraft leihen?», z.B. um eine Flasche oder eine Tür zu öffnen.
Wie müssen wir uns einen Tag in deinem Leben vorstellen? Was behindert dich im Alltag konkret?
In meinem Alltag bin ich gut organisiert. Ich habe Assistentinnen angestellt, die mich bei all dem unterstützen, was ich mit meiner Behinderung selbst nicht tun kann. Behindert fühle ich mich v.a. durch Hindernisse im öffentlichen Raum wie Stufen und durch administrative Schikanen. Ich muss von Zeit zu Zeit wieder beweisen, dass ich immer noch behindert bin.
Trotz aller Hindernisse hast du es ins Kantonsparlament geschafft. Um die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist es demnach nicht so schlecht bestellt?
Ich bin in einer äusserst privilegierten Lage. Doch eine angemessene Vertretung von Menschen mit Behinderungen haben wir noch lange nicht. Gemäss Statistik müsste dafür ein Fünftel der Amtsträgerinnen und -träger mit einer Behinderung leben.
Ende März fand im Bundeshaus die erste Behindertensession statt. Was hat diese aus deiner Sicht gebracht?
Wir wurden für einen kurzen Augenblick sichtbar. Das ist ein erster Schritt. Nun müssen aber weitere folgen.
Welche Forderungen wurden konkret gestellt und was passiert nun damit?
Wir haben eine Resolution verabschiedet mit dem Titel «Vollständige politische Teilhabe jetzt!» Die Forderungen betreffen die ganze Bandbreite der politischen Teilhabe: Vom Stimm- und Wahlrecht über Hindernisfreiheit von politischen Prozessen und Veranstaltungen bis hin zur direkten Repräsentation von Menschen mit Behinderung auf allen politischen Ebenen.
Du sprachst in der Arena zur Session davon, dass es in der Schweiz ein Umdenken braucht. Woran denkst du dabei?
Menschen mit Behinderung werden noch zu häufig als bemitleidenswerte Wesen angeschaut, die Schutz und Fürsorge brauchen. Wir wollen aber dazugehören und unseren Beitrag zur Gesellschaft leisten.
Diese Woche startest du die Unterschriftensammlung für die Inklusions-Initiative mit. Worum geht es da?
Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung soll in der Bundesverfassung verankert werden.
Was müsste für dich persönlich realisiert sein, damit du sagen kannst: Ich fühle mich vollständig in die Gesellschaft integriert?
Die Behinderung muss nebensächlich werden. In den 90er Jahren auf einer USA-Reise fragte ich in einem Einkaufszentrum nach einem Rollstuhl-WC. «Die WCs sind dort drüben», hiess es. Ich konnte ganz selbstverständlich dort auf die Toilette gehen, wo alle anderen es auch taten. Meine Behinderung spielte keine Rolle.
Dies erlebe ich bereits heute beim Unterrichten. Ich bin die Lehrerin und die Kollegin aus der Wirtschaftsfachschaft. In der EVP erfahre ich das übrigens auch. Meine Behinderung war für die Nationalratskandidatur nebensächlich.
Zur Herausforderung wird Inklusion, wenn wir gemeinsam unterwegs sind und die Hindernisse sich nicht aus dem Weg räumen lassen. Wenn es um die fehlende Zugänglichkeit geht wie z.B. Stufen vor einem Restaurant, stellt sich unweigerlich die Frage: Ziehe ich mich zurück oder lassen sich die anderen mit mir behindern? Dann wird meine Behinderung zur Hauptsache und dieser Platz steht ihr nicht zu.
Interview: Dirk Meisel, Leiter Kommunikation EVP CH
Das Interview ist erschienen im Mitgliedermagazin «Akzente» der EVP Schweiz, Mai 2023